„Der Zweifel gehört zur echten Fruchtbarkeit, man muss durch ihn hindurch, es geht kein anderer Weg als dieser gefahrvolle in die große Gewissheit.“
Martin Buber
Ist das Ratlosigkeit von Berater*innen, wenn das Aushalten von Spannungen und Unsicherheiten angesichts der gesellschaftlichen und arbeitsweltlichen Veränderungen als wichtige Kompetenz beschrieben wird?
Verbietet es die Rolle, Digitalisierung, Migration, Klimawandel und andere globale Herausforderungen nicht als Rahmenbedingungen zu behandeln, sondern zum Bestandteil von Beratung zu machen?
Oder sind Verunsicherung und Ängste und der Wunsch nach Sicherheit und Klarheit nicht wichtige Hinweise und Indikatoren für Veränderung? Das nennt Charles Sanders Peirce, der Begründer der philosophischen Tradition des Pragmatismus „Zweifel“. Wir Menschen leiden an Diskrepanzen, Ungewissheiten und Widersprüchen. Sie verunsichern und sind gleichzeitig der Motor zur Veränderung. Wir tendieren sozusagen zu einer »Ambiguitätsintoleranz«. Wir halten Uneindeutigkeit, Widersprüche und Inkongruenz nicht gerne lange aus und streben nach festen Überzeugungen und „Wahrheiten“. Den Pragmatisten geht nicht darum Mehrdeutigkeiten zu tilgen, sondern die Unsicherheit als Voraussetzung für kreative Lösungen zu nutzen.
Der „Zweifel“ macht uns darauf aufmerksam, dass etwas nicht so ist, wie es sein sollte und dass unsere bisherigen Handlungsstrategien keine sinnvollen Lösungen mehr hervorbringen. Nun scheint der Zweifel nicht immer aktives Handeln anzuregen.
Andere verantwortlich machen und die Lösungen von anderen erwarten: ist das Überforderung, Ohnmacht, Unkenntnis oder Bequemlichkeit? Die Überzeugung, dass die Welt schlechter und unübersichtlicher geworden sei, wird von vielen geteilt. Und wieder Andere meinen, wer viel hat, hat auch viel Angst, all das zu verlieren.
Die Pragmatisten empfehlen, ungünstige Überzeugungen durch Annahmen zu ersetzen, die vom Ergebnis her betrachtet die individuelle und soziale Handlungsfähigkeit wieder erhöhen. Ein Blick auf die Online-Publikation Our World in Data (OWID), die über die historische Entwicklung der Lebensverhältnisse der Menschheit informiert, könnte unsere Bewertungen und Erklärungen irritieren und uns befragen, was uns so hilflos fühlen lässt. Der Anteil der Weltbevölkerung, der unter Unterernährung leidet, ist von 14,8% im Jahr 2000 auf 10,8% im Jahr 2016 gefallen. Im selben Zeitraum ist der Anteil der Menschen, die in Armut leben, von 28,6% auf 10% gesunken. Die Kindersterblichkeit ist heute die niedrigste, die es je gegeben hat. In den letzten dreißig Jahren hat sich die Kindersterblichkeit mehr als halbiert – von 12,6 Millionen im Jahr 1990 auf 5,4 Millionen im Jahr 2017.
Oder nehmen wir den Klimawandel. Keine andere wissenschaftliche Disziplin hat einen so eindeutigen Konsens darüber, was die Szenarien sind. Es ist völlig klar was zu tun ist. Von den technischen und ökonomischen Vorrausetzungen ist der Wandel möglich.
Gerade erst letzte Woche äußerte sich Christiana Fígueres, die ehemalige UN- Klimaverhandlerin, im Guardian (15.02.2020) zu den angeblichen Ungewissheiten in dem Zusammenhang. „Die einzige Ungewissheit ist, wie lange wir durchhalten werden“.
An anderer Stelle sagt sie, dass „wir also vor der folgenreichsten Weggabelung stehen. Wenn wir so weitermachen wie bisher, werden wir irreparabel einen Kurs der ständigen Zerstörung mit viel menschlichem Leid und dem Verlust der biologischen Vielfalt einschlagen. Oder wir können uns für die andere Richtung entscheiden, einen Weg des Wiederaufbaus und der Regeneration, und die negativen Auswirkungen des Klimawandels zumindest auf ein überschaubares Maß reduzieren. Aber wir können uns nur in diesem Jahrzehnt dafür entscheiden. Unsere Eltern hatten diese Wahl nicht, weil sie nicht über das Kapital, die Technologien und das Verständnis verfügten. Und für unsere Kinder wird es zu spät sein. Dies ist also das Jahrzehnt, und wir sind die Generation.“
Sollten wir angesichts dieser Gewissheiten den Blick vielleicht besser nach außen richten und gemeinsam hinschauen und die Verantwortung für das übernehmen, was wir als Menschheit in den letzten Jahrzehnten unserem Planeten und der Zukunft unserer Kinder angetan haben. Dass Sicherheiten wegbrechen ist eine mögliche Erklärung für die gefühlte und verbreitete Ohnmacht. Ich habe mich im kalten Krieg, zum Nato- Doppelbeschluss, in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit oder der Atomkraft in Deutschland auch nicht besonders sicher gefühlt. Vielleicht gibt es bessere Erklärungen für die Unsicherheits- und Ohnmachtsgefühle. Erklärungen, die Handlungsmöglichkeiten, die Zuversicht, das Zutrauen, die Selbstbestimmung und den Gestaltungswillen stärken.
Im letzten Jahresbrief ging es um die Hoffnung. In diesem Jahresbrief geht es um den Ärger, der in Verbindung mit der Hoffnung das Potential für Veränderung schafft.
Christiana Figueres, die sich selbst eine „hartnäckige Optimistin“ beschreibt, meint mit ihrem Leitmotiv „Outrage and Optimism“ (Empörung und Optimismus) eine ähnliche Kombination aus einer zuversichtliche Weltsicht, gepaart mit kräftigen, extrovertierten Emotionen.
Und genau das Gegenteil davon lässt sich bei der fehlenden Zuversicht, fehlenden Wirkmächtigkeit und introvertierten Verarbeitung in den skizzierten Ohnmachtsgefühlen und Verunsicherungen erahnen. Das Gefährliche daran sind die Konsequenzen. „Entweder, man empfindet sich irgendwann einfach nicht mehr als Teil des ganzen Systems, beschließt, dass die Welt eh schlecht ist, und entschuldigt damit jedes Zusehen.“ (Ronja von Rönne)
„Wir sind nicht nur verantwortlich für das, was wir tun, sondern auch für das, was wir nicht tun.“ (Moliere) Wir können Entscheidungen treffen und tun es auch alle. Wenn wir uns nicht entscheiden, ist auch das auch eine Entscheidung. Auch für das Nicht-Entscheiden und für die Entscheidung nichts zu tun, (be-)treffen einen die Folgen,- irgendwann bestimmt.
Die Pragmatisten empfehlen, die sozialen und gesellschaftlichen Folgen des Handelns in Überlegungen und Entscheidungen mit einzubeziehen und Handeln vom Ergebnis her zu bewerten. Verantwortung bedeutet dann, nicht nur für die konkrete Aktion, sondern für die Folgen unseres Handelns die Verantwortung zu übernehmen.
Warum beschäftigt uns das so sehr, dass wir dir/ euch/ Ihnen das schreiben und zumuten? Es beschäftigt uns als Eltern, als Großeltern, als Berater*innen, die sowohl politische Organisationen und Funktionsträger beraten, aber auch Unternehmen beraten, die sich mit den globalen Rahmenbedingungen auseinandersetzen und darin handeln müssen. Es beschäftigt uns, weil wir gnadenlose Optimisten sind und das Potential zum Handeln sehen.
So stellt sich jeder/ jedem Einzelnen und jedem Zusammenschluss von Professionellen in Fach- und Berufsverbänden die Frage nach der persönlichen oder sozialen Strategie, mit Unübersichtlichkeit und Verunsicherung umzugehen.
- Sollten wir also lieber weggucken und uns die Empathie abtrainieren?
- Und um uns persönlich kümmern, achtsam die eigenen Grenzen wahrnehmen und für das individuelle Glück sorgen?
- Aushalten ist die neue Devise! Hinschauen wäre eine andere. Je mehr wir hinschauen, umso mehr und deutlicher sehen wir, was tun wäre und was wir auch tun können.
- Und noch besser wäre, gemeinsam hinschauen. „Doch wenn Menschen durch die Anerkennung dessen, was der Fall ist, miteinander verbunden bleiben, sind sie schon in einer besseren, weil solidarischeren Situation als wenn sie sich gegenseitig über das schwer Erträgliche betrügen und mit dem, was auf sie zukommt, alleine lassen. Sowohl mit sich selbst wie untereinander in einer Gemeinschaft darüber einig zu sein, was der Fall ist, ist deshalb etwas, was Menschen anstreben.“ (Michael Hampe)
- Und die Krise auch als Krise behandeln. „Ihr sagt, dass ihr eure Kinder über alles liebt. Und trotzdem stehlt ihr ihnen ihre Zukunft, direkt vor ihren Augen. Solange ihr euch nicht darauf konzentriert, was getan werden muss, sondern darauf, was politisch möglich ist, gibt es keine Hoffnung. Wir können keinen Ausweg aus dieser Krise finden, wenn wir sie nicht wie eine Krise behandeln.“ (Greta Thunberg)
- Das tun, was in unserem Umfeld für uns möglich ist. Es geht um die kleinen Schritte, die wir in unserem Umfeld tun können und wir können einiges gegen das soziale Erfrieren, gegen Verantwortungslosigkeit und Gedankenlosigkeit tun.
„Das einzige, was gegen Ohnmacht hilft, sind unsexy Begriffe wie etwa: Verantwortungsbewusstsein. Für sich, für andere. Anstrengung. Nächstenliebe. Das Herz weit öffnen, auch wenn es dabei verletzt werden kann. Verletzt werden wird. Am Ende tut nämlich doch nichts mehr weh, als zugesehen zu haben. Und nur das ist Mut: Die Bereitschaft, zu leiden für etwas, an das man glaubt.“
Ronja von Rönne
Carla van Kaldenkerken
Bergen, den 20.02.2020